Ein wirklich gutes Miteinander – wie genial wäre das (Psalm 133)!
Eine Übertragung von Psalm 133
Wunderschön – ja, wirklich genial wäre das! Wenn Menschen nicht nur auf dem Papier zusammengehörten, sondern ein wirklich gutes Miteinander leben könnten.
Das wäre wie wertvolles Salböl, das auf unseren Kopf herabfließt. Denn es würde uns alle herausheben – nicht nur die Oberen. Es wäre wie der gepflegte lange Bart des Hohepriesters, herabfließend auf sein Gewand. Denn es würde uns alle herausheben – nicht nur die Elite.
Es wäre wie ein Tau, der nicht verdunstet, sondern in einem reißenden Fluss herabfließt – vom Berg Hermon im Norden bis zum Tempelberg Zion im Süden. Es würde uns allen Lebendigkeit schenken.
Wir würden die Nähe Gottes erleben – fließendes Leben im ganzen Land, von der Quelle des Jordans bis zu seiner Mündung. Und nicht nur in dieser Gegend, sondern überall und für immer.
Erfülltes Leben für alle und für immer – so könnte es sein!
Wir hören (und lesen) Gottes Wort
Wenn ich biblische Texte übertrage, versuche ich, Jahrtausende alte Schriftstücke so wiederzugeben, dass wir sie heute verstehen können. Ich will dabei nicht assoziativ vorgehen und mich nicht zu eigenen Sätzen verleiten lassen, die nur meiner momentanen Befindlichkeit entsprechen, aber wenig oder nichts mit der ursprünglichen Intention des biblischen Textes zu tun haben.
Biblische Texte formulieren Glaubenserfahrungen von Menschen, die vor langer Zeit gelebt haben. Sie werden für uns lebendig, wenn sie auf unsere heutige Lebenswelt hin durchsichtig werden und uns dann ansprechen. Wir hören sie als Gottes Wort, wenn wir ihre uralte Absicht ernst nehmen.
Erkenntnisse aus meiner Arbeit mit dem Text
Der Psalm versucht, Vorstellbares mit scheinbar kaum realistischen Wünschen zu verbinden: Ein wirklich gutes Miteinander („gam jachad“, wörtlich: mitsamt miteinander) weist darauf hin, dass Gemeinschaften möglich sind, in denen jeder „oben“ steht und keiner unten.
Darum geht es in den ersten beiden von drei Bildern, die mit dem Wort jarad (herabfließen, stürzen) verbunden sind: Salböl für alle – nicht nur für besondere Würdenträger. Eine herausgehobene Stellung für alle – nicht nur für den Hohepriester, den Nachfolger Aarons, wenn er sich an hohen Festtagen der Gemeinde zuwendet und sein langer Bart auf sein Gewand herabfließt.
Im dritten Bild bekommt das Hoffnungsbild einen Ort. Durch die Nennung der Berge und das dreimalige Verb jarad (Wurzel des Flussnamens Jordan – der Herabstürzende) wird klar: gemeint ist der Jordan von der Quelle (Hermon) bis zur Mündung (Zion). Der zum reißenden Fluss werdende Tau ist ein Gegenbild zur Gerichtsdrohung des Propheten Hosea, der das vom Untergang bedrohte Nordreich mit bald verdunstendem Tau verglichen hatte (Hos 6,14; 13,3). Ein großes, befreites, gerechtes Israel ist also möglich.
Und noch Größeres ist denkbar: Wenn gutes Zusammenleben gelingt, wird die Wirklichkeit durchsichtig hin auf ein erfülltes Leben für alle, für immer und an jedem Ort (hajim ad haolam – Leben hin zur Ewigkeit).
Unser Psalm ist also kein abgeklärter Weisheitsspruch, wie viele Theologen meinen, sondern ein Stoßseufzer – ein Gegenbild angesichts dunkler Realität. Gute Energie, die uns tief durchatmen lässt. Ein prophetischer Blick auf Vergangenheit und Zukunft – und damit auf unsere Gegenwart.
Ingo Schrooten




